Schandtat Numero 33
Irgendwo in einem der vielen Räume im altehrwürdigen Haus der Blacks am Grimmauld-Platz Nr. 12 schlug eine alte Standuhr zwölfmal – Mitternacht!
"Sirius? Was machen wir hier?"
"Feiern, Harry!"
"Feiern?"
"Ja, Jahrestag."
"Jahrestag?"
"Jahrestag."
Harry fragte sich, was für ein Jahrestag das sein könnte. Ihm fiel jedoch nichts dazu ein. Und dann kam ihm etwas ganz Anderes in den Sinn.
"Sirius! Bin ich tot?"
"Was? Wie kommst Du denn darauf?"
"Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist in meinem Bett in unserem Haus in Godric's Hollow neben Ginny eingeschlafen zu sein. Und DU bist auf jeden Fall tot!"
"Natürlich bist Du NICHT tot!"
"Und wie komme ich dann hierher? Und was mache ich hier? Und was ist mit Dir?"
"So viele Fragen", meinte Sirius kopfschüttelnd. "Du bist hier, um zu feiern! Ich dachte, Du könntest mal ein wenig Party in Deinem Leben gebrauchen!"
Harry sah sich um und stellte fest, dass er und Sirius – der ganz und gar nicht nach einem Geist aussah – im großen Ballsaal des Black-Hauses saßen, den sie erst kürzlich bei Renovierungsarbeiten entdeckt hatten. Der Saal war mit Kerzen hell erleuchtet, und überall standen kleine Tische mit Stühlen. An einem saßen Harry und Sirius. An einer Wand war ein großes Buffet aufgebaut, und die Mitte des Raumes war für eine Tanzfläche frei gehalten.
"Und wo sind die Gäste?" wollte Harry wissen.
Sirius sah auf eine Uhr, die eine der vielen Glasvitrinen zierte.
"Die müssten jede Minute kommen."
"Und wer kommt? Holst Du meine Freunde auch einfach so aus dem Bett? Dann hättest Du doch Ginny gleich mitnehmen können."
"Heute wird nicht mit den Lebenden gefeiert. Die siehst Du doch jeden Tag. Heute feiern wir mit den nicht ganz so Lebendigen."
"Mit Geistern?" fragte Harry wenig begeistert nach.
Wozu brauchten sie dann ein Buffet, vor allem, da die Speisen alle noch genießbar aussahen?
"Keine Geister! Habe eine Sondergenehmigung eingeholt", grinste Sirius von einem Ohr zum anderen. "Heute werden alle... naja... irgendwie... wie lebendig sein."
"Und es soll mir Spaß machen, lauter Leute zu sehen, die eigentlich tot sind?" wollte Harry ungläubig wissen.
Wie war sein Pate nur auf diese bescheuerte Idee gekommen?
"Wird es! Du wirst sehen! Das ist ja noch nicht alles. Du und ich und alle anderen werden ihre sechzehnjährigen Selbst sein!"
"DAS hört sich ja gleich viel besser an", bemerkte Harry sarkastisch.
"Komm schon. Sei etwas aufgeschlossener! Das WIRD richtig gut werden! Und Du WIRST Spaß haben! Versprochen!"
"Und wer kommt alles?" wollte Harry resignierend wissen.
Sirius ließ aus dem Nichts eine Pergamentrolle erscheinen, die er mit einem eleganten Wurf entrollte. Harry staunte nicht schlecht... Die war ja riesig!
"So viele?" wollte er ungläubig wissen.
"Naja, nicht alle haben zugesagt. Dumbledore hat andere Verpflichtungen. Aber sonst..."
"Aha... mhm...", war alles, was Harry dazu sagen konnte.
"Die anderen Rumtreiber kommen. Natürlich! Fred, Sevvie,..."
Harry unterbrach Sirius: "Sevvie?"
"Du weißt schon... Severus... Severus Snape."
"Sevvie?" wiederholte Harry nur.
"Ich darf ihn nicht mehr Schniefelus nennen. Und Sevvie ärgert ihn genauso", entgegnete Sirius schulterzuckend. "Also weiter... Lily,..."
Harry blendete die schier unendliche Aufzählung von Gästen aus. So viele Menschen sollte er gekannt haben? Und Snape hatte keine Möglichkeit gefunden, sich zu drücken? DAS konnte Harry sich kaum vorstellen. Dann erregte etwas wieder seine Aufmerksamkeit.
"Was war das gerade?" wollte er von Sirius wissen.
"Mhm?"
"Der letzte Name?"
"Ach so... Tom... Tom Riddle."
Harry keuchte erschrocken auf.
"DU HAST VOLDEMORT EINGELADEN?"
"HÄ? Oh... da war doch was... ups?"
"UPS? Mehr hast Du dazu nicht zu sagen?"
"War mir entfallen, dass das sein richtiger Name war."
Harry wollte ihn unterbrechen, aber Sirius sprach schnell weiter.
"Sein sechzehnjähriges Ich ist eigentlich ganz in Ordnung. Hat sogar Humor. Ist eigentlich eine gute Gesellschaft. Einige der anderen jedoch... DIE habe ich nicht eingeladen!"
"Was meinst Du?"
"Voldemort gibt es im Jenseits gleich acht Mal! Und außer Tom ist einer irrer als der andere. Du weißt schon... Die Sache mit den Horkruxen."
Harry konnte nur wie betäubt nicken. Das konnte doch nicht wahr sein... Party mit dem Dunklen Lord. Na gut, er würde es auf sich zukommen lassen. Und hatte er da eben nicht auch noch andere Namen von Todessern gehört? Er fragte Sirius danach.
Der zuckte nur mit den Schultern.
"Als Sechzehnjährige waren die alle noch irgendwie erträglich. Und Du weiß doch: Je mehr umso lustiger!"
Erneut sah er auf die Uhr.
"Uhh, es wird Zeit. Ich muss uns beide noch verjüngen. Und Du brauchst noch andere Kleidung."
Harry sah an sich herunter. Er trug immer noch nur Boxershorts und T-Shirt. Aber im nächsten Moment war er auch schon passend für eine – für seine – Party gekleidet. Und ein Blick in den nahen Spiegel zeigte ihm, dass er auch schon verjüngt war, so wie Sirius neben ihm auch.
Und schon hörte Harry um sich herum PLOPP-Geräusche, wie von apparierenden Personen. Bevor er noch genau darüber nachdenken konnte, ob Geister... Kurzzeitig-lebende-eigentlich-Tote... wurden seine Gedanken durch Sirius' begeisterten Ausruf unterbrochen:
"Jetzt kann die Party beginnen!"
'Ach, was soll's!' dachte Harry sich. 'Wen interessiert's... PARTY!!!'
Und ehe Harry es sich versah, war die Feier in vollem Gange. Das Butterbier und der Feuerwhiskey flossen in Strömen. Am Buffet füllten sich die Teller und Platten immer wieder magisch mit den köstlichsten Köstlichkeiten.
Der ganze Ballsaal war erfüllt von ausgelassenem Geplauder und Gelächter und lauter, fröhlicher Tanzmusik. Auf der Tanzfläche drehten sich bereits die ersten Paare aber auch einzelne Tänzer und Tänzerinnen in bunter Partykleidung und feierlichen Festumhängen. Diese Party übertraf alle Feierlichkeiten, auf denen Harry je gewesen war, den Weihnachtsball anlässlich des Trimagischen Turniers in seinem vierten Schuljahr in Hogwarts eingeschlossen.
Überwältigt starrte er in die vielen glücklichen Gesichter um sich herum. Wen hatte Sirius da nur alles eingeladen? Wer waren nur all diese Leute? Er hatte leichte Probleme, Bekannte zu entdecken. Und das lag nicht nur daran, dass alle Partygäste heute Nacht sechzehn Jahre alt waren.
Aber während er noch das bunte Treiben im vom Kerzenschein erleuchteten Ballsaal bestaunte, begannen Harrys Füße ungewollt im Takt der Musik zu wippen. Nur wenige Augenblick später tanzte und drehte er sich ausgelassen in der wachsenden Menschenmenge auf der Tanzfläche. Und stolperte direkt in ein Tanzpaar hinein.
"Kannst Du nicht aufpassen?" knurrte eine tiefe Stimme.
Harry musterte den Jungen mit der dunkelblonden Haarmähne. Irgendwie kam der ihm bekannt vor. Er hatte etwas Kämpferisches und Löwenartiges an sich. Aber natürlich! Das war der sechzehnjährige Rufus Scrimgeour, der hier vor ihm stand, der zukünftige – oder vielleicht doch eher ehemalige? – Zaubereiminister, der bei Voldemorts Übernahme des Zaubereiministeriums getötet worden war.
Er schaute Harry noch einen Moment grimmig an, dann machte sich ein Grinsen auf seinen jugendlichen Zügen breit.
"Wenn das nicht der junge Potter ist!" rief er aus und schüttelte Harry überschwänglich die Hand. "Sie haben Karriere gemacht, wie man hört. Und Ihre Zusammenarbeit mit dem Zaubereiminsterium klappt wohl neuerdings besser als zu meiner Zeit?"
Scrimgeour zwinkerte Harry verschmitzt zu, dann drehte er seine Tanzpartnerin in Harrys Richtung.
"Darf ich Ihnen Bertha Jorkins vorstellen, Potter?"
Harry starrte die junge Frau erstaunt an. Bertha Jorkins? Ja, natürlich. Die Ministeriumshexe aus der Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit, die damals kurz vor der Quidditch-Weltmeisterschaft in ihrem Urlaub in Albanien verschwunden war. Sie war ein Opfer von Lord Voldemort geworden, wie sich später herausgestellt hatte. Und sie sah genauso aus, wie Harry sie in seinem vierten Schuljahr in Hogwarts in Albus Dumbledores Denkarium gesehen hatte. Damals, in der Erinnerung seines alten Schulleiters, war sie eine sehr neurige und tratschhafte Schülerin gewesen, die gerade zwei ihrer Mitschüler verpetzt hatte.
"Soll ich Dir was verraten?" flüsterte sie Harry jetzt verschwörerisch zu. "Severus Snape wäscht sich nicht mal im Jenseits die Haare!"
"Darf ich abklatschen?" wurden sie da von einer weiteren männlichen Stimme unterbrochen.
Bartemius Crouch, junior, fuhr es Harry durch den Kopf. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Aber lebte der nicht noch? Sicher die Dementoren, die unheimlichen Wachen des Zauberergefängnisses von Askaban, hatten ihn geküsst, also ihm die Seele ausgesaugt. Aber dieser Kuss bedeutete nicht automatisch den Tod. Oder doch?
Bei einem zweiten Blick auf die Gestalt im tadellosen, grauen Anzug mit passender Krawatte, wurde es Harry jedoch klar. Diese Ausgeburt an Ordnungsliebe und Verkörperung unbedingter Einhaltung aller Vorschriften mit der wie mit dem Lineal gescheitelten Frisur und dem Ansatz eines exakt getrimmten Schnurrbartes über der Oberlippe, war nicht Barty Crouch, der fanatische Anhänger des Dunklen Lords und Todesser. Das war das sechzehnjährige Selbst seines Vaters: Bartemius Crouch, senior, der nun mit einer Körperhaltung, als hätte er einen Spazierstock verschluckt, die Hand von Bertha Jorkins ergriff.
"Ist gut, Barty", grinste Rufus Scrimgeour. "Ich werde mich dann mal auf die Suche nach Deiner Frau machen. Wollte schon immer mal die Geschichte von ihr hören, wie ihr damals mit dem Vielsafttrank euren Sohn aus Askaban geschmuggelt habt!"
"Wirklich nette Party, Potter!" rief er Harry noch zu, dann war er auch schon wieder im Partygetümmel verschwunden.
Harry schüttelte noch einmal leicht den Kopf über Sirius' Gästeliste. Waren wirklich so viele Menschen aus seinem Leben und seiner Umgebung gestorben? Sollte oder musste er wirklich alle Partygäste kennen? War das dort nicht Charity Burbage, Hogwarts' ehemalige Professorin für Muggelkunde? Und der Muggel neben ihr? War das nicht dieser Frank Bryce, der Gärtner, den Voldemort als alten Mann im Herrenhaus seines Großvaters getötet hatte?
"Harry, auf ein Wort!" wurde er da aus seinen Gedanken gerissen.
Wieder brauchte er eine Weile, bis er erkannte, wer da an einem der kleinen Tische saß und ihn nun zu sich heranwinkte. Es war der junge Alastor – noch-nicht-Mad-Eye – Moody. Er hatte noch all seine Gliedmaßen, noch kein Holzbein. Sein Gesicht war noch nicht vernarbt und entstellt. Seine Nase war noch vollständig. Und er hatte noch seine beiden eigenen braunen Augen. Kein verrücktes, leuchtend blaues und magisches Auge, mit dem er durch seinen Hinterkopf und sogar durch Tarnumhänge schauen konnte. All diese Verletzungen und Kämpfe gegen schwarzmagische Todesser lagen noch vor dem sechzehnjährigen Alastor.
"Komm' her, Harry! Auf einen Drink mit uns beiden!" rief er nun wieder und deutete dabei auf den kleinen, rattengesichtigen Jungen, der ihm am Tisch gegenüber saß.
Aber den erkannte Harry sofort. Das war niemand anderes als Peter Pettigrew, ehemals enger Freund seines Vaters und später Verräter und Diener des Dunklen Lords. Er blickte gehetzt und geduckt um sich und schien sich nicht sonderlich wohlzufühlen in Gegenwart des zukünftigen Aurors und Todesserjägers Moody. Wurmschwanz! Dieser kleine Feigling, der das Versteck seiner Eltern verraten und seinen Paten Sirius ins Gefängnis gebracht hatte, um sich dann jahrelang als Ratte getarnt bei Harrys bestem Freund, Ron Weasley zu verstecken. Nein, mit diesem fiesen Nager wollte Harry sicher keinen Drink nehmen.
"Später vielleicht!" rief er Moody zu und sah sich weiter im Ballsaal um.
Sirius hatte ja gesagt, dass alle Rumtreiber kommen würden. Wurmschwanz war da. Tatze auch. Fehlten nur noch Moony, Remus Lupin, und Krone, James Potter, sein Vater.
Doch zunächst entdeckte er nur seinen Paten wieder, der zusammen mit Fred Weasley am Buffet stand und ihm zuprostete. Harry drängte sich durch die tanzenden Kurzzeitig-lebenden-eigentlich-Toten zu ihnen.
"Super Party!" rief Fred über die Musik hinweg. "Mal was anderes! Du ahnst gar nicht, wie öde das Leben nach dem Tod und im Jenseits sein kann. Bist Du jetzt eigentlich auch tot, Harry?"
Sirius drängte sich sofort zwischen die beiden und drückte Harry ein Butterbier in die Hand.
"Was redest Du denn da, Fred? Harry ist natürlich NICHT tot!"
"Ich meine ja nur, weil Harry der einzige auf dieser Party wäre, der…"
"Sei still und trink noch einen Feuerwhiskey, solange Du noch kannst", sagte Sirius schnell. "Heute wollen wir feiern und uns amüsieren!"
Und er drückte dem Weasley-Zwilling nun ebenfalls ein Glas in die Hand.
Harry hatte inzwischen eine kleine Gestalt mit langen Fledermausohren und Augen groß wie Tennisbällen auf einem der Buffettische entdeckt. Sie trug eine Art weißen Overall und bediente sich gerade an einem Tablett mit Ingwerpasteten.
"Dobby!" rief Harry aus.
"Harry Potter!" quiekte der kleine Hauself mit seiner piepsigen, aber sehr durchdringenden Stimme und sprang vom Tisch herunter.
Er umarmte und umklammerte Harrys Beine knapp oberhalb der Knie und schien ihn gar nicht wieder loslassen zu wollen.
"Du musst uns doch wohl nicht bedienen heute Nacht, Dobby?" kam es Harry in den Sinn.
Fast sah er Hermine Weasleys, ehemals Grangers, empörtes Gesicht vor sich, wenn sie erfuhr, dass die Hauselfen selbst nach dem Tod noch von den Hexen und Zauberern versklavt wurden und sie ihnen zu Diensten sein mussten. Alle Elfen-Befreiungs-Gesetze umsonst!
Doch Dobby winkte ab.
"Keine Sorge, Master Harry! Master Sirius hat für diese besondere Nacht einen ganz anderen Zauber gewirkt, der alle mit Essen und Trinken versorgt."
"Harry!" ertönte da ein erfreuter Ausruf hinter ihnen.
Als Harry herumwirbelte, wurde er von einem grellen, weißen Blitzlicht geblendet.
"Entschuldige Harry! Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen. Selbst nach dem Tod!"
Der kleine, schmächtige Colin Creevey lächelte ihn hinter seinem Muggel-Fotoapparat selig an. Harry trat einen Schritt auf ihn zu und drückte ihn trotz Kamera vor dem Bauch herzlich an sich. Die ersten Jahre in der Schule für Hexerei und Zauberei hatte Colin ihn regelrecht verfolgt mit seiner Verehrung und Bewunderung. Dann war er – kaum älter als sechzehn Jahre – beim Kampf mit Voldemort und seinen Todessern in Hogwarts ums Leben gekommen. Harry schluckte schwer und musste gegen ein mulmiges Gefühl im Magen ankämpfen, das in ihm aufsteigen wollte.
Neben Colin stand ein weiterer Bekannter, der viel zu früh und vollkommen sinnlos gestorben war. Auf einem Muggel-Friedhof. Durch die Hand und den Zauberstab von Peter Pettigrew. Auf Befehl des Dunklen Lords, weil er ihm auf seinem Weg zu einem neuen Körper und zurück an die Macht in die Quere gekommen war. Cedric Diggory, der damalige Kapitän der Quidditch-Mannschaft und Vertrauensschüler des Hauses Hufflepuff und Schulchampion von Hogwarts im Trimagischen Turnier, sah noch immer verdammt gut aus, hatte aber auch irgendwas von einem blassen Vampir an sich, wie Harry fand.
Mit traurigen, grauen Augen trat Cedric auf Harry zu, ergriff und schüttelte seine Hand.
"Danke, Harry!" hauchte er. "Danke, dass Du meinen Körper damals nicht auf dem Friedhof in Little Hangleton gelassen und ihn zurück zu meinen Eltern gebracht hast! Hatte nie Gelegenheit, Dir dafür zu danken!"
Ein Kloß begann sich in Harrys Hals zu formen und brachte ihn zum Seufzen. Es tat weh, all diese Menschen hier zu sehen, die vor ihrer Zeit gestorben waren, und an die Gründe für ihren Tod erinnert zu werden. Ein Teil von Harry gab sich jetzt selbst die Schuld daran. Könnten sie vielleicht noch leben, wenn es ihn nie gegeben, sich ihre Wege nie gekreuzt hätten?
Wie lange würde diese Party der Untoten wohl noch dauern? Er beugte sich zu seinem Paten Sirius und fragte leise:
"Wie lange wirkt dieser Kurzzeitig-lebende-eigentlich-Tote-Zauber denn noch, Sirius? Bis wann gilt Deine Sondergenehmigung?"
"Bis zum Morgengrauen", sagte sein Pate, "bis die Sonne über den Horizont im Osten steigt."
Sirius deutete vage in Richtung der großen, bodentiefen Fenster des Ballsaals, die mit schweren, schwarzen Samtvorhängen verschlossen waren.
"Aber mach' Dir keine Gedanken, Harry. Du sollst feiern und Spaß haben! Genieße die Party, solange sie dauert!"
Nur war Harry sich nicht mehr sicher, ob er das auch konnte und wollte.
Da fühlte er sich plötzlich rückwärts in eine herzliche Umarmung mit mehr als zwei Armen gezogen. Kurze, rosafarbene Stoppelhaare pieksten ihm in die Nase, während ihm kräftige Jungenhände freundschaftlich auf den Rücken klopften.
Nymphadora Tonks, fuhr es Harry durch den Kopf. Oder besser Nymphadora Lupin, korrigierte er sich in Gedanken, denn die junge Aurorin hatte nicht lange vor ihrem Tod seinen ehemaligen Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künsten, Werwolf und Freund, Remus Lupin geheiratet. Und vermutlich hätte sie ihm einen ordentlichen Stoß in die Rippen versetzt, hätte er sie jemals mit ihrem vollen Vornamen angesprochen.
"Tonks!" rief Harry aus.
"Harry!" rief die junge Frau zurück. "Es tut so gut, Dich zu sehen!"
Dann zog sie ihn wieder zurück in die Dreierumarmung mit dem sechzehnjährigen Selbst ihres Ehemannes.
"Harry!" sagte nun auch Remus Lupin und drückte ihn gleich noch einmal fester. "Wie man hört, hast Du Dich gut um unseren kleinen Teddy gekümmert."
Der Kloß in Harrys Hals wurde immer größer. Ted Lupin war sein Patensohn und nach dem Tod seiner Eltern bei der Schlacht um Hogwarts hatte er versucht für ihn da zu sein, so oft und so gut es ging. Teddy war hauptsächlich bei seiner Großmutter Andromenda Tonks aufgewachsen, hatte später aber immer mehr Zeit mit Harry und Ginny und noch später auch mit ihren Kindern verbracht und war so ein Teil der Familie geworden.
Als Tonks Harry wieder ansah, schwammen ihre Augen in Tränen.
"Es tut so weh, ihn nicht aufwachsen sehen zu können. Zu wissen, dass er allein da draußen ist, und wir ihm unsere Liebe nicht mehr zeigen und geben können!"
Harry begann zu zittern. Kein Kind sollte so früh seine Eltern verlieren, ohne die geringste Chance, sie überhaupt jemals kennenzulernen.
"Hört sofort auf, Harry zu deprimieren!" rief Sirius Black plötzlich laut dazwischen. "HARRY IST NICHT TOT! Dies ist eine PARTY! SEINE Party! Er soll noch einmal Spaß haben, bei Merlins Bart!"
Aber Harry hatte keinen Spaß. Er trieb dahin durch hämmernde Musik, schwebendes Kerzenlicht und das Meer aus bleichen Gesichtern sechzehnjähriger Toter. Der ganze Ballsaal schien sich nun um ihn zu drehen, bis sein Blick ein Augenpaar traf, das das gleiche Grün hatte, wie sein eigenes.
Lily Potter, die mit sechzehn Jahren noch Lily Evans gewesen war, nickte ihm wissend zu und zog ihn dann mit all ihrer Liebe an sich. Harry vergrub sein Gesicht in ihr langes, dunkelrotes Haar und weinte hemmungslos. All der Schmerz, all der Verlust in seinem Leben brach mit einem Mal aus ihm hervor.
"Mein Sohn", sprach seine Mutter ganz nah an seinem Ohr. "Ich war und bin immer bei Dir. Ich liebe Dich. Und ich kann nicht mit Worten ausdrücken, wie stolz ich auf Dich bin."
Harry taumelte von seinen Gefühlen überwältigt zurück.
Und sein Herz bekam einen kleinen Stich, als er bemerkte, dass der Junge, mit dem seine Mutter gerade getanzt hatte, nicht sein Vater war. Harry schnappte nach Luft. Neben Lily stand ein sechzehnjähriger Severus Snape, der ihm nun mit einem Blick aus dunklen Augen durch einen Schleier aus strähnigen, schwarzen Haaren leicht peinlich berührt zunickte.
In einer dunklen Welle schwappten Erinnerungen an über sechs Jahre Demütigungen, Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten durch seinen Lehrer für Zaubertränke über Harry hinweg. Sicher, am Ende hatte sich herausgestellt, dass Snape die ganze Zeit auf der Seite Dumbledores und damit der Guten gestanden hatte, aber einige Schmerzen saßen einfach zu tief.
Harry driftete weiter durch die Partymeute. Fort von seiner Mutter. Fort von Severus Snape.
Da ließ ihm eine durchdringende Stimme das Blut in den Adern gefrieren.
"Nette Party, Potty-Baby!"
Diese dunkle, raue Stimme und ihr hysterisches Gelächter hatte ihn lange bis in seine tiefsten Alpträume verfolgt, gehörten sie doch der Wahnsinnigen, sie seinen Paten Sirius und später auch Dobby, den Hauselfen, getötet hatte. Bellatrix LeStrange stolzierte mit ihren schweren Augenlidern und wild nach allen Seiten abstehenden Haaren durch den Ballsaal ihrer Vorfahren, der altehrwürdigen Familie Black.
Die Musik verstummte mit einem Missklang. Und die Partygäste wichen vor ihr und ihren Begleitern, aber auch vor Harry zurück.
"Ja, nette Party, Potter!"
Harry verkrampfte sich vollständig beim Anblick des dunkelhaarigen und gutaussehenden Jungen, bei dem Bellatrix sich untergehakt hatte, und mit dem sie durch die Gasse der Kurzzeitig-lebenden-eigentlich-Toten jetzt langsam auf ihn zukam.
"Fehlen nur noch ein paar Veela-Kellnerinnen in knappen Kleidchen, oder Iggy?"
Der so angesprochene war ein sechzehnjähriger Todesser und ehemaliger Lehrer an der Zaubererschule von Durmstrang namens Igor Karkaroff, der nach Voldemorts erstem Sturz, nach seinem missglückten Todesfluch gegen Harry, der auf ihn selbst zurückgeprallt war, seine eigene Haut dadurch gerettet hatte, dass er andere Todesser an die Strafverfolgung durch das Zaubereiminsterium ausgeliefert hatte. Später hatten ihn der Dunkle Lord und seine Anhänger dafür in einer Hütte im Norden ermordet.
Der schwarzlockige Junge, der Bellatrix durch den Saal führte, hatte seinen anderen Arm eng um Karkaroffs Schultern gelegt, was diesem sichtlich unangenehm zu sein schien.
Doch Harry ignorierte Karkaroffs Versuche, sich aus dieser unbehaglichen Umarmung zu lösen und sich unter ihr wegzuducken, denn er hatte nur noch Augen für den Jungen mit dem spöttischen Blick in der Mitte zwischen Igor und Bellatrix.
Dieses Gesicht und diese Gestalt kannte er aus ihren eigenen Erinnerungen in ihrem Horkrux-Tagebuch und der Kammer des Schreckens. Diese Gestalt war der sechzehnjährige Tom Riddle, der schon damals seine finsteren und größenwahnsinnigen Pläne verfolgt und dafür gesorgt hatte, dass Harrys Freund Hagrid, der Halbriese, von der Schule geworfen wurde.
Und die ganze Zeit schienen Buchstaben und Worte vor Harry in der Luft zu schweben:
TOM VORLOST RIDDLE
IST LORD VOLDEMORT.
Die versammelte Menschenmenge hatte nun eine Gasse gebildet, die sich von der großen Doppelflügeltür des Ballsaals hinter Voldemort bis zu der mit Samtvorhängen verhangenen Fensterzeile hinter Harry erstreckte. Und eine beklemmende Stille hatte sich über den großen Raum gelegt, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Es war wie damals in der Großen Halle in Hogwarts. Sie standen sich gegenüber. Sie würden sich umkreisen wie Kampfhähne kurz vor dem Angriff. Gleich würden Harry und Voldemort ihre Zauberstäbe zücken und sich ein letztes, tödliches Duell liefern. Denn Sirius hatte sich geirrt. Das sechzehnjährige Ich von Tom Riddle war eigentlich nicht ganz in Ordnung und hatte auch keinerlei Humor. Und ganz bestimmt war er keine gute Gesellschaft.
Zwar hatte er sich mit sechzehn noch den größten Teil seiner körperlichen Menschlichkeit bewahrt, aber er war doch noch immer für den Tod der meisten auf dieser Party versammelten Menschen verantwortlich. Auch wenn er noch seine Haare und noch keine roten Schlangenaugen hatte.
Als sich nun aber die große, hölzerne Flügeltür des Ballsaals laut quietschend öffnete, blieb Harrys Herz endgültig stehen. Denn nun betraten die Menschen die Festlichkeit, die ihm das Liebste und Teuerste im Leben und auf der ganzen Welt waren.
Da war seine Ehefrau Ginny mit ihren Kindern James Sirius, Albus Severus und Lily Luna. Seine besten Freunde Ron und Hermine Weasley mit ihrer Tochter Rose und ihrem Sohn Hugo. Arthur und Molly Weasley, seine Schwiegereltern, kamen herein mit ihren übrigen Kindern Bill, Charlie, Percy und George und deren Partnern und all ihren Nachkommen. Auch Ted Lupin und seine Freundin Victoire, die Tochter von Bill Weasley und seiner Frau Fleur, ehemals Delacour, waren da.
Sie alle waren sechzehn Jahre alt, trugen Festumhänge und Abendkleider und schauten sich verblüfft und erstaunt im feierlich geschmückten und erleuchteten Ballsaal des Black-Hauses um.
"NEIN!" schrieh Harry voller Verzweiflung und aus Leibeskräften. "Ihr seid nicht TOT! Ihr dürft nicht TOT sein!"
Die Tür zum Ballsaal fiel mit einem lauten, endgültigen Knall hinter ihnen ins Schloss. Harrys große Familie und auch der junge Dunkle Lord und seine Begleitung hatten sich zwischen die anwesenden Kurzzeitig-lebenden-eigentlich-Toten zurückgezogen, sodass Harry nun ganz allein in der Gasse zwischen Eingang und Fenstern stand. Durch die schweren Samtvorhänge drang ein Licht, das nicht vom Kerzenschein und auch nicht von der künstlichen Beleuchtung auf der Straße und dem Grimmauld-Platz vor dem Haus zu stammen schien.
Harry stand ganz still und bewegungslos da, den Blick fest auf das blank polierte Parkett zu seinen Füßen geheftet. Er bemerkte kaum, dass sich mit leisen Flügelschlägen eine weiße Schneeeule von der hohen, gewölbten Saaldecke herabschwang und leicht wie eine Feder auf seiner Schulter niederließ.
"Hallo, mein Junge!"
Er wirbelte herum, und brachte Hedwig damit dazu, aufzuflattern und sich auf der Glasvitrine mit der Uhr in seiner Nähe niederzulassen.
Harry glaubte, in einen Spiegel zu schauen. Der Junge, der ihm jetzt in der kleinen Gasse zwischen Eingangstür und Fensterzeile gegenüber stand, hatte seine Statur und seine unzähmbare, verstrubbelte Haarmähne. Er war in allem sein absolutes Ebenbild, nur seine Augen waren nicht grün wie Harrys, sondern braun.
"Dad?"
"Hallo, Harry."
Harrys Atem flatterte, und er runzelte verwirrt die Stirn.
"Das verstehe ich nicht. Du bist tot."
"Ja, das ist richtig."
"Wie kannst Du dann jetzt hier sein?"
"Wie kannst Du hier sein?"
Langsam begann es in Harry zu dämmern, und der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht wich einem der Erkenntnis. Dies war kein vorübergehender Zauber, keine Sondergenehmigung. Dies hier war endgültiger.
"Ich bin auch tot."
Er begann zu schluchzen und brach erneut in Tränen aus.
"Ist schon gut. Ist schon gut. Ist schon gut, mein Junge."
James Potter nahm seinen bebenden Sohn in den Arm und ließ ihn sich an seiner Schulter ausweinen.
"Ich liebe Dich, Dad."
"Ich Dich auch, mein Junge."
"Bist Du… Bist Du echt?"
"Das will ich doch hoffen. Ja, ich bin echt. Du bist echt. Alles, was Dir je widerfahren ist, ist echt. All die Menschen hier im Ballsaal – die sind auch alle echt."
Harry löste sich aus der Umarmung und sah an sich hinunter. Er war nun kein sechzehnjähriger Junge mehr. Er war jetzt der alte, zufriedene Mann und Familienvater, als der er gestorben war. Sirius' Kurzzeitig-lebende-eigentlich-Tote-Zauber schien seine verjüngende Wirkung verloren zu haben. Auch alle anderen Party-Gäste sahen jetzt wieder so aus wie zum Zeitpunkt ihres Todes.
"Sind sie… sind sie alle tot?"
"Junge, jeder muss irgendwann mal sterben. Manche von ihnen vor Dir, manche lange nach Dir."
"Aber wieso sind sie jetzt alle hier?"
"Weißt Du, es gibt kein Jetzt, kein Hier."
"Wo sind wir, Dad?"
"Diesen Ort habt ihr, den haben wir alle zusammen erschaffen, damit wir uns nun wiederfinden können. Weißt Du, die wichtigste Zeit Deines Lebens war die, die Du mit diesen Menschen verbracht hast. Darum sind wir alle hier. Niemand stirbt allein, Harry. Du hast sie gebraucht und sie Dich."
"Wofür?"
"Um uns zu erinnern und um loszulassen."
"Werden wir denn von hier weggehen?"
"Nicht weggehen, nein. Wir gehen weiter."
"Wir gehen weiter? Wohin?"
"Lass es uns herausfinden."
Noch einmal nahm James Potter, der bei dem Versuch gestorben war, seine Frau und seinen Jungen zu beschützen, seinen gealterten Sohn in den Arm, dann zog er seine Lily ganz nah an sich heran.
Ginny Potter, nun wieder ganz die alte, grauhaarige Frau, als die sie friedlich im Kreis ihrer Familie eingeschlafen war, hauchte Harry einen Kuss auf die Wange und lächelte ihm aufmunternd zu. Sie nahmen einander bei der Hand und verschränkten zärtlich ihre Finger ineinander. Hedwig, die Schneeeule verließ ihren Sitzplatz auf der Vitrine, hockte sich wieder auf Harrys Schulter und knabberte ihm zärtlich am Ohr.
Überall im Ballsaal begrüßte man sich wie alte Bekannte oder wie gerade aus einem wilden Rausch oder tiefem Schlaf erwacht. Ein tiefer Frieden lag über allem und jedem. Harry sah Mad-Eye Moody, jetzt wieder mit allen Narben, einem Holzbein und seinem magischen Auge. Er sah wie George Weasley seinen Zwillingsbruder Fred umarmte. Und er sah wie Tonks und Lupin ihren Sohn Teddy endlich wieder in die Arme schlossen.
Dann ergriff James Potter Lilys Hand und blinzelte seinem Sohn vielsagend zu.
"Es wird Zeit!" sagte er und alle im Ballsaal hörten es und wandten sich ihm voller Vorfreude und freudiger Erwartung zu.
Er trat an eines der bodentiefen Fenster und zog den schweren, schwarzen Samtvorhang zur Seite. Ein helles, blendend-weißes Leuchten erfüllte den Ballsaal und die ganze Welt. Und als James die Fensterflügel weit geöffnet hatte, traten sie alle gemeinsam hinaus ins Licht.
[first published August, 9th 2011 – October, 31th 2012]
